Die verblüffende Aktualität von Kierkegaards Verzweiflungskonzept heute

Leitung: Dr. phil. Alice Holzhey

Das Heute im Titel bezieht sich auf zweierlei: Zum einen auf die heutige Postmoderne im Unterschied zur klassischen Moderne; zum andern auf die heutige Daseinsanalyse im Unterschied zur Schule von Medard Boss.

Wir wollen uns in diesem Seminar mit beiden Aktualitäten beschäftigen und mit der zeitgeschichtlichen beginnen. Kierkegaards Analyse des ästhetischen Existenzmodus in Abhebung vom ethischen (in Teil II von Entweder-Oder von 1843) liest sich wie eine Vorwegnahme jener individuellen Grundhaltung, welche heute zu einem dominanten Lebensideal geworden ist. Für Kierkegaard basiert die ästhetische Existenzform auf einem fragmentierten Verhältnis zur Zeit und zur eigenen Zeitlichkeit, die er als das Leben «im Moment» und «von Moment zu Moment» bezeichnet. Exakt dieses Zeitverhältnis wird heute als das bestmögliche idealisiert und unter der Formel vom «Leben im Hier und Jetzt» unablässig propagiert und von vielen Menschen inzwischen auch zelebriert. Kierkegaard verhilft uns zu einem existenzialen Verständnis des postmodernen Zeitverhältnisses als Ausdruck von «Verzweiflung». Wir werden fragen: Wovor flieht der postmoderne Mensch verzweifelt ins «Hier und Jetzt»; und welche wichtigsten Symptome erzeugt diese Flucht?

Im zweiten Teil wenden wir uns der von Kierkegaard generell benutzten adverbialen Verwendung von ‹verzweifelt› zu, die den Leser verwirrt, weil sie der gängigen adjektivischen Verwendung von ‹verzweifelt› widerspricht. Beispiel dafür ist seine berühmte Bestimmung zu Beginn von «Die Krankheit zum Tode» (1849): «Verzweifelt nicht man selbst sein wollen» bzw. «verzweifelt man selbst sein wollen». Was meint hier «verzweifelt»? Hat diese adverbiale Verzweiflung noch etwas mit der üblichen adjektivischen Verzweiflung als «verzweifelt-sein» gemeinsam? Für die aktuelle daseinsanalytische Psychopathologie bietet sich Kierkegaards adverbial-aktives Konzept eines verzweifelten Wollens als ein existenzial-hermeneutischer Leitbegriff für alle «agierenden» Formen seelischen Leidens an, was deshalb ein enormer Gewinn ist, weil der jederzeit mögliche Umschlag vom adverbial-aktiven «Verzweifelt-(nicht-)man-selbst-sein-wollen» zum adjektivisch-passiven «Verzweifelt-sein» darin über das Wort ‹verzweifelt› mitkonzipiert ist.

Anmeldung: alice.holzhey@bluewin.ch

Ort: Sonneggstrasse 82, 8006 Zürich

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