Zur Besonderheit daseinsanalytischer Theorie und Praxis

Die Daseinsanalyse ist eine spezielle Richtung der Psychoanalyse, welche der philosophischen Frage nach dem Menschen besondere Beachtung schenkt. Sie wurde von Ludwig Binswanger (1881-1966) und Medard Boss (1903-1990) begründet. In der Weiterentwicklung von Alice Holzhey hält die Daseinsanalyse Erkenntnisse Sigmund Freuds und vieler seiner Schüler für unverzichtbar, verbindet sie jedoch mit einem philosophischen Nachdenken über die grundlegenden Bedingungen menschlicher Existenz, das sie im frühen Hauptwerk «Sein und Zeit» von Martin Heidegger, bei Sören Kierkegaard und Jean-Paul Sartre findet.

 

Zur daseinsanalytischen Auffassung seelischen Leidens. Die Daseinsanalyse teilt mit der Psychoanalyse eine hermeneutische Auffassung seelischen Leidens. Diese basiert auf Freuds revolutionärer Entdeckung, dass die manifest unsinnigen psychopathologischen Symptome nicht einfach seelische Defizite anzeigen, sondern einen verborgenen Sinn haben. Deshalb ist die daseinsanalytische Psychopathologie nicht auf die blosse Kenntnis und Erklärung einzelner „Störungen“ und „Störungsbilder“ ausgerichtet, sondern auf das Verstehen der in ihnen zum Ausdruck kommenden persönlichen Problematik der Patientinnen und Patienten.

Die Daseinsanalyse versteht seelisches Leiden in doppelter Hinsicht: Zum einen – analog der Psychoanalyse – als ein „Leiden an Reminiszenzen“ (Freud), das heisst als ein Leiden an unaufgelösten Kindheitskonflikten sowie an traumatischen Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart; zum andern als ein Leiden am eigenen Sein, das heisst als ein Leiden an Grunderfahrungen menschlichen Daseins, welche mit seiner Endlichkeit, Ungesichertheit, Konflikthaftigkeit und Verantwortlichkeit zu tun haben. Nach daseinsanalytischer Auffassung liegt die individuelle Disposition zu seelischem Leiden in der überdurchschnittlichen Hellhörigkeit eines Menschen für die beängstigenden und gleichwohl unabänderlichen Grundbedingungen des eigenen Existierens, die ihn zugleich überfordert. Dem widerspricht nicht, dass diese Hellhörigkeit oft durch traumatische Negativerfahrungen geweckt wird.

 

Zur Methode. Die Daseinsanalyse versteht Therapie als einen hermeneutischen Prozess, an dem TherapeutIn und PatientIn beteiligt sind. Medium der daseinsanalytischen Psychotherapie ist das „analytische Gespräch“, welches eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Leiden bzw. den darin verborgenen Konflikten, Ängsten und Wünschen ermöglichen soll. Für dieses Gespräch sind die von Freud herausgestellten Grundelemente verbindlich geblieben, nämlich die Grundregel der freien Assoziation und die Abstinenzhaltung des Therapeuten, welche zusammen den Raum für die Entfaltung der sogenannten „Übertragung“ schaffen.

Das hermeneutische Vorgehen gründet in einer phänomenologischen Haltung des Therapeuten. Sie verlangt, dass sich seine Deutungen an den vorliegenden Phänomenen auszuweisen haben. Das geduldige und möglichst unvoreingenommene Hinhören auf das, was zur Sprache kommt, soll verhindern, dass die Phänomene vorschnell einer theoretischen Konstruktion unterworfen werden. Ein wichtiges Instrument ist dabei die von der Psychoanalyse entdeckte „Gegenübertragung“, welche – in einem weiten Sinne verstanden – die Gesamtheit der eigenen, durch die Therapie evozierten und in ihr auftauchenden Vormeinungen, Gefühle, Fantasien und Träume umfasst.

 

Zum Ziel daseinsanalytischer Psychotherapie. Es liegt in einem veränderten kognitiven wie emotionalen Selbstverhältnis. Die Daseinsanalyse teilt die psychoanalytische Überzeugung, dass recht verstandene „Selbsterkenntnis“ im Sinne der Bereitschaft, sich in einem analytischen Prozess mit bisher abgewehrten Anteilen des eigenen Seelenlebens zu konfrontieren und auseinanderzusetzen, heilende Wirkung hat. Leitend ist dabei die Auffassung, dass „Einsicht“ keine vom praktischen Leben abgehobene rationale Erkenntnis darstellt, sondern unmittelbar lebenspraktisch wirksam wird, weil durch sie der Weg frei wird für bisher blockierte Lebensmöglichkeiten. Daseinsanalytische Psychotherapie ist kein technisches Behandlungsverfahren, sie setzt nicht in erster Linie auf den Effekt gezielter Interventionsstrategien, sondern auf die Wirkung, welche der interaktionelle Charakter des therapeutischen Prozesses entfaltet.

 

Zur Wirksamkeit. Die Daseinsanalyse ist wie die Psychoanalyse überzeugt, dass sich die analytisch-hermeneutische Therapieform nicht nur für bestimmte Störungsbilder eignet, sondern sich prinzipiell bei allen Formen seelischen Leidens bewährt unter der Voraussetzung, dass die Patientin / der Patient bereit ist, sich auf einen analytischen Verstehensprozess einzulassen.